Manifest

„Dieses Bild hättest du auch sonst wo machen können …“.

Labestins Bilder stoßen nicht immer auf pure Begeisterung, sondern häufig auf Kritik, wie diese. Denn im Zentrum seiner Arbeit stehen nicht technische Aspekte der Fotografie oder Bilddokumentationen, sondern das Medium Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel. Und wie jedes Kunstwerk, sind auch seine Bilder mit einer philosophischen Grundidee verknüpft, die es hier im Manifest zur Neuen Emotionalen Sachlichkeit zu veranschaulichen gilt: Seine Bilder sind weder „einfach schön“, noch „schön einfach“: Aber sie besitzen immer eine individuelle Aussagekraft. Und genau hier setzt die Kernessenz der Neuen Emotionalen Sachlichkeit an: Ihre kunsthistorische und semantische Vorgängerin, die Neue Sachlichkeit, eine Stilrichtung, die sich in den 1920iger Jahren etablierte, stellte die reine Bildästhetik in den Fokus. Die Neue Emotionale Sachlichkeit setzt ihre Priorität jedoch nicht mehr auf die reine Ästhetik des Gegenstands an sich, sondern erweitert die Idee um eine Komponente: Das Menschliche in Form der Emotion! Aus genau diesem Zusammenspiel von dinglicher Ästhetik und der sich durch die Betrachtung entfaltenden individuellen Emotion, erschöpft sich die subjektive Schönheit, die den Stil der Neuen Emotionalen Sachlichkeit prägt.

Diese Grundhaltung zeigt sich schon im Akt des künstlerischen Schaffens: Wenn Labestin sich aufmacht und seine Kamera zückt, dann ist ein Zustand Grundvoraussetzung: Die achtsamen Haltung. Unvoreingenommen, mit Offenheit, uneingeschränkter Akzeptanz, Wohlwollen und neugierig auf das, was das aufmerksame Betrachten des Außen in seinem Innen zum Schwingen bringt.

Veranschaulichen wir uns diese Idee an einem uns allen bekannten Beispiel: Dem Selfie. Unter “Selfie” verstehen wir eine fotografische Aufnahme, bei der Fotografierende und Fotografierte auf ein und dieselbe Person entfallen: Derjenige, der den Auslöser drückt, ist gleichzeitig – in einer selbstgewählten Kulisse – Bildinhalt. Labestin versteht unter Selfies allerdings nicht nur, wie beschrieben, Bilder von sich, sondern von seinem Ich. Es geht darum, zu erkennen, zu verstehen und den Ursprung des authentischen Selbst freizulegen, welches unter den Konditionierungen und Sozialisierungen des Umfeldes vergraben wurde. Um als menschliche Spezies zu überleben, haben wir das systematische Vernunftdenken zur gültigen Instanz erhoben. Aber, wenn wir im wahrsten Sinne des Wortes bei Verstand, bei gesundem Verstand, bleiben wollen, können wir auch unmöglich ohne unmittelbare Wahrnehmung des Inneren und der äußeren Welt auskommen. Allerdings haben wir oft weder Zeit noch Raum für diese Suche nach unserem Selbst. Wir sehen uns einer “Tyrannei der Termine” unterworfen, unser Ich hat keinen eigenen Raum mehr, sondern treibt als bloßes Abziehbildchen in der Echokammer unseres Geistes. Und von dieser Echokammer aus, folgen wir dann den immer gleichen Pfaden unserer ausgetretenen Denkmuster. Um mit dieser Eigendynamik zu brechen, verfolgt Labestin mit seinen Fotografien das Ziel: Das „In-der-Welt-sein“ durch achtsame Betrachtung und darauf aufbauende Reflexion in ein „zu-Hause-sein“ zu verwandeln!

Es wird eine Brücke geschlagen, indem ein Sujet im Außenraum betrachtet wird und im Innenraum andockt, sprich: Das Außen findet im Innen seinen Platz. Ein Ding in der Welt, die wir oft als überfordernd und belastend wahrnehmen, verknüpft sich mit einer uns ureigenen Emotion und hilft uns dabei, die Welt wieder zu einem für uns verlässlichen Ort zu machen. Ein Ort, der sich in uns mit uns selbst verknüpft; der in uns ankommt – und wir in ihm. So sind Labestins Werke fast schon symbolische Handlungen, denn sie repräsentieren jene Werte und Ordnungen, aber auch Spannungen und Hürden, die unser Leben prägen. Sie bringen in einer Gesellschaft dort Kommunikation ohne Worte hervor, wo Worte ohne Kommunikation vorherrschen.

Im Kontext dieser Überlegung stellt sich die Frage: Wurden wir dazu erzogen, dass unsere Gefühle beziehungsweise Kreativität nicht erwähnenswert seien, oder schämen wir uns dieses einfach nur? Vielleicht haben wir einfach auch nur Angst, dass uns der Hauch des Intellektuellen genommen würde, wenn wir unsere kreative Ader offenbaren? Denn als Erwachsener definieren wir unser Ich vielmehr über den Kopf – also das systematische Vernunftdenken – als über das Herz.
Als Kind hatten wir ein Geheimversteck für unsere Schätze. Diese Schätze gaben uns das Gefühl über ein eigenes Stück Leben zu verfügen. Die gesellschaftlichen Strukturen, die als Erwachsener unser alltägliches Leben formen, haben ein ähnliches Verhältnis zum Privaten, zum Intimen: Das Private ist der wichtigste Lebensbereich, der größte gesellschaftliche Bedeutung hat. Gleichzeitig ist er maximal mit Tabus besetzt, sodass man fürchten muss, es sei ein Hort der Asozialität oder zumindest der Schuldgefühle. Als Erwachsener ersetzten wir dieses reale Geheimversteck der Kindheit durch Gefühle und Gedanken, die wir vor unserer Umwelt verbergen. Aber Gefühle und Gedanken definieren unsere innere, individuelle Struktur! Wenn wir allerdings unsere Gefühle nicht mehr ausdrücken können, dann können wir auch kein Gespräch mehr führen und begegnen niemanden mehr. Erst in der Ruhe finden wir dann eine Treppe, die es uns ermöglicht, immer tiefer in die Struktur unseres Selbst hinabzusteigen. In uns entdecken wir plötzlich Schätze, von denen wir den Rest unseres Lebens zehren könnten. Diese verborgene Struktur aus Gedanken, Gefühlen und Geheimnissen ist der Quell aus dem wir Kraft, Eingebung und Trost schöpfen.

Die Kunst – vor allem die Fotografie – kann eine solche Treppe sein, die Ihnen hilft, in die tieferen Schichten Ihres Ich vorzudringen um Sie so von den ausgetretenen Pfaden fort, hin zur unerschöpflichen Energie der Kreativität zu führen. Und zwar im Hier und Jetzt – in der Realität. Dadurch gelingt es, die zerrinnende Zeit nicht als etwas wahrzunehmen, das verbraucht oder zerstört, sondern als etwas, das uns vollendet.

Durch das Betrachten einer Fotografie können Emotionen freigelegt werden: Tief empfundene Sorgen, Leidenschaft, Freude oder Tränen ausgelöst, oder sogar Veränderungen angestoßen werden. Sie kann helfen seinem Selbst  näher zu kommen. Fotografien der Neuen Emotionalen Sachlichkeit werden daher beim Betrachten nicht konsumiert oder verbraucht, sondern gebraucht.

Seien Sie deshalb offen für das, was Ihnen in der Ausstellung begegnet. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das, was Ihnen beim Betrachten zufällt. Egal, ob positive Emotionen oder Gedanken an Schicksalsschläge. Egal, ob Sorgen vor der Zukunft oder Pläne für Ihr Leben. Lassen Sie es zu, halten Sie aber nicht daran fest. Verinnerlichen Sie, dass Sie ferne Ziele gar nicht zu erreichen brauchen. Der Weg dorthin hat bereits mehr Einfluss auf Sie, als Sie sich vorstellen können. Er bringt Ihre Entwicklung voran und verändert dadurch auch das Ziel.

Und vergessen Sie nicht: Wenn Sie beim Betrachten einer Fotografie spüren, wie Energie von einem Bild ausströmt, dann geht diese Energie von Ihnen selbst aus – die Fotografie hat sie lediglich freigelegt.

© Copyright - Bernhard Labestin